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Wenn der Fussball mehr als nur eine Nebensache ist

Er begeistert uns, er lässt uns jubeln, leiden, mitfiebern. Fussball ist für viele Menschen die schönste Nebensache der Welt. Dies hat uns auch die Europameisterschaft 2024 wieder vor Augen geführt. Doch für manche Menschen bedeutet der Fussball noch viel mehr. Das zeigt die Geschichte der afghanischen Fussballerin Khalida Popal.

Die Europameisterschaft in Deutschland ist zu Ende. Schön war es, ein grosses Fest. Vier Wochen lang zog König Fussball die Fans in seinen Bann. Es gab spektakuläre Tore und dramatische Elfmeterschiessen. Es konnten die besten Spieler der Welt bestaunt werden. Ob vor dem Fernseher oder beim Public Viewing, wo sich wildfremde Zuschauerinnen und Zuschauer jubelnd in den Armen lagen. Wieder einmal zeigte sich, dass die grosse Stärke des Fussballs vor allem darin liegt, Menschen verschiedenster Kulturen zu vereinen. Es wird vom Sport als gesellschaftlichem Kitt gesprochen.

Manchmal ist er aber noch mehr als das, etwa ein Werkzeug gegen die Unterdrückung, so wie im Fall von Khalida Popal. Die 37-Jährige hat in ihren Teenagerjahren in Afghanistan heimlich den Frauenfussball aufgebaut, ein Nationalteam gegründet. Der ersten Kapitänin ihres Teams gelang es sogar, dass der Frauenfussball vom afghanischen Verband anerkannt wurde. «Der Fussball hat den Mädchen eine Gemeinschaft und Hoffnung, eine Art von Glück gegeben. Das liebe ich an ihm», liess sich Khalida Popal kürzlich im Tages-Anzeiger zitieren. Dass die Afghanin in ihrem Land überhaupt Fussball spielen konnte, war nicht selbstverständlich. Popal wuchs in privilegierten Verhältnissen auf. In ihrer Familie wurden die Frauen als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft betrachtet. Anders als viele andere Frauen wurde sie von ihrem Vater und ihren Brüdern nicht gezwungen, mit dem Fussball aufzuhören. Während der ersten Herrschaft der Taliban 1996 bis 2001 wurde das Spiel mit dem runden Leder zu ihrer einzigen grossen Freude im pakistanischen Flüchtlingslager.

Nach ihrer Rückkehr nach Kabul konnte sie an ihrer Schule weitere junge Frauen davon überzeugen, sich zu einem kleinen Team zusammenzuschliessen. Hinter den Mauern der Schule fühlten sich die Mädchen geschützt. Sie blieben aber nicht unbemerkt: Eines Tages kletterten Männer über die Mauer, schlugen den Mädchen mit einem Schal ins Gesicht, leerten ihre Rucksäcke aus, zerstörten die Tore, beschimpften sie als Huren. Einer der Männer nahm zum Schluss ein Messer hervor und stach damit mehrmals auf den Ball der Mädchen ein. «Die Attacke zeigte mir, wie mächtig der Fussball sein kann. Er war mehr als ein Spiel. Wir konnten ihn als Werkzeug benutzen, um uns gegen die Rollen aufzulehnen, die sie für unser Geschlecht vorgesehen hatten», schreibt Khalida Popal in ihrem Buch «My Beautiful Sisters», das kürzlich erschienen ist.

Auch später musste Khalida Popal ihren Einsatz teuer bezahlen. Als Finanzchefin des afghanischen Verbands und Verantwortliche des Frauenfussballs kritisierte sie 2011 vor laufender Kamera die mangelnde Unterstützung für das Frauen-Nationalteam und sprach die Verantwortung dafür korrupten Sportfunktionären zu. Kurz darauf wurde ihr Auto gerammt und es wurde sogar auf sie geschossen. Im Verkehrschaos von Kabul konnte sie zwar vor ihren Verfolgern flüchten, doch die Bedrohung war nun zu gross. Als schliesslich ein Haftbefehl gegen sie erlassen wurde, floh sie aus dem Land.

Ihre Flucht führte Khalida Popal in ein Flüchtlingslager in Dänemark. Depressiv und geplagt von Angstzuständen, musste sie sich mit Medikamenten behandeln lassen und eine Therapie machen. Als es ihr wieder besser ging, nahm sie ihr Engagement wieder auf. Seither setzt sich Popal aus dem Exil für den afghanischen Frauenfussball ein und organisiert Turniere. Dabei lässt sie sich von den massiven Drohungen, die sie auch weiterhin erhält, nicht aufhalten. «Ich fühle mich in Dänemark sicher, aber ich werde immer wieder angegriffen», erzählte sie 2021 in einem Interview mit der Zeitung Blick. «Über meine Social-Media-Kanäle kommt unendlich viel Hass. Man will, dass ich schweige.»

Nach der erneuten Machtübernahme der Taliban 2021 blickt Popal mit noch mehr Sorgen auf ihr Heimatland. In den letzten drei Jahren hat sie mit ihrem Netzwerk die Evakuation von über 500 Fussballerinnen und ihren Familien aus Afghanistan organisiert. Sie half auch bei der Flucht des Juniorinnen-Teams nach Grossbritannien. Die Spielerinnen des Frauen-Nationalteams leben mittlerweile in Australien. Unter den Taliban, die auch den Fussballverband kontrollieren, ist es den Frauen in Afghanistan verboten, Sport zu treiben. Offiziell existiert das Nationalteam nicht mehr. Vom Weltfussballverband (FIFA) wird ein Nationalteam erst anerkannt, wenn es vom eigenen nationalen Verband anerkannt worden ist. Khalida Popal setzt sich nun dafür ein, dass die afghanischen Fussballerinnen eine alternative Organisation ins Leben rufen dürfen, die von der FIFA akzeptiert wird.


Auftrag

  • Diskutieren Sie in kleinen Gruppen die folgenden Fragen und präsentieren Sie Ihre Ergebnisse der Klasse:

    • Inwiefern kann Fussball ein Werkzeug gegen Unterdrückung sein? Beziehen Sie sich dabei auf das Beispiel von Khalida Popal.
    • Welche weiteren Beispiele aus der Geschichte oder aus aktuellen Ereignissen kennen Sie, bei denen Sport eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielt oder gespielt hat?
  • Verfassen Sie einen Brief an Khalida Popal, in dem Sie darauf eingehen, aus welchen Gründen Sie vom Engagement von Khalida überzeugt sind. Nehmen Sie die besprochenen Punkte aus der Diskussion mit auf.

  • Sie möchten noch mehr über die Person und das Engagement von Khalida erfahren.

    • Recherchieren Sie zusätzliche Informationen über Khalida Popal und den Frauenfussball in Afghanistan.
    • Stellen Sie ihr im zuvor verfassten Brief fünf Fragen, um mehr über ihre Erfahrungen und ihren Einsatz für den Frauenfussball in Afghanistan zu erfahren. Die Fragen sollen nicht bereits im Text beantwortet sein. Denken Sie dabei an Fragen zu ihrer Kindheit, den Herausforderungen, denen sie begegnet ist, ihren Erfolgen und ihren aktuellen Projekten und Zielen.
    • Achten Sie darauf, vor allem offene Fragen zu stellen. Der Sachtext «Frageformen» hilft Ihnen dabei.