Unser Wohlstand schrumpft. Dies sollen die kürzlich vom Bundesamt für Statistik veröffentlichten Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung in der Schweiz zeigen. Die ständige Wohnbevölkerung hat voriges Jahr um 1,7 Prozent zugenommen. Weil aber das preisbereinigte Bruttoinlandprodukt (BIP) nicht gleich stark angestiegen ist, hat das BIP pro Kopf abgenommen. Das BIP wird gerne als Mass für den Wohlstand herangezogen. Dies ist allerdings nicht unumstritten. Zudem gibt es verschiedene Gründe für das Bevölkerungswachstum.
Wie lässt sich eigentlich Wohlstand messen? Meist wird als Anhaltspunkt das sogenannte Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf herangezogen. Schrumpft dieser Wert, bedeutet dies, dass der durchschnittliche Wohlstand der Menschen in einem Land gesunken ist. So geschehen ist dies voriges Jahr auch in der Schweiz. Gemäss den kürzlich vom Bundesamt für Statistik veröffentlichten Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung bis Ende 2023 ist die ständige Wohnbevölkerung um 1,7 Prozent auf 8,96 Millionen gewachsen. Gleichzeitig ist das reale, also preisbereinigte Bruttoinlandprodukt nur um 1,3 Prozent gestiegen. Heisst: Das BIP pro Kopf ist um 0,4 Prozent geschrumpft.
Das BIP als Mass für den Wohlstand ist allerdings nicht unumstritten. «Das BIP bildet vieles nicht ab, was uns Wohlergehen schafft», sagt Irmi Seidl, Wirtschaftsprofessorin von der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft. Wie gut es der Schweiz geht, können Zahlen wie das BIP letztlich nur begrenzt ausdrücken. Dabei wäre es eigentlich gar nicht so speziell, dass das BIP pro Kopf schrumpft. In der Geschichte der Schweiz gab es immer wieder einzelne Jahre, in denen das vorgekommen ist: zum Beispiel während der Öl-Krise Mitte der 1970er-Jahre, nach der Finanzkrise 2008 und während der Coronapandemie 2020. Neu ist allerdings, dass das BIP pro Kopf diesmal in einer Phase schrumpft, in der es hierzulande keine Krise gibt. Und so stellt sich die Frage, weshalb es zu diesem Rückgang kommt.
Tatsächlich ist auch diesmal eine Krise mitverantwortlich, allerdings keine, die sich direkt bei uns abspielt, sondern in Osteuropa. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat die Schweiz rund 67’000 Geflüchtete aufgenommen. Diese Personen aus der Ukraine haben den Schutzstatus S erhalten. Diejenigen von ihnen, die seit mehr als einem Jahr in der Schweiz leben, zählen neu zur ständigen Wohnbevölkerung. Dies ist ein Teil der Erklärung, weshalb die Bevölkerung im letzten Jahr so schnell gewachsen ist wie schon seit rund 60 Jahren nicht mehr. Konkret hat die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz um knapp 147’000 Personen zugenommen. Ohne die geflüchteten Menschen aus der Ukraine hätte sich die Bevölkerungszahl nur um 1,1 statt 1,7 Prozent erhöht. Der sogenannte Wanderungssaldo – die Differenz zwischen Ein- und Auswanderungen – lag 2023 bei rund 139’000 Personen. Das ist doppelt so viel wie im Jahr davor. Einzig 2008 war der Saldo im Rahmen der Personenfreizügigkeit noch höher.
Mathias Binswanger sucht die Gründe für das starke Wachstum aber auch in der Schweizer Wirtschaftspolitik: «Wir müssen uns fragen: Ergibt es Sinn, ein Wachstum anzustreben, welches Probleme verursacht, ohne den Wohlstand zu steigern?» Binswanger zieht zum Beispiel die Politik der Standortförderung in Zweifel. So werden Firmen ins Land gelockt, um auf diese Weise zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Dabei verursacht das starke Wachstum gleich eine ganze Reihe von Problemen: Wohnungsnot, Zersiedelung, Dichtestress. Besonders brisant sind zum Beispiel die Preissteigerungen bei Häusern und Mieten. Gemäss einer Studie der Universität Freiburg ist die mit der Personenfreizügigkeit verbundene Migration für rund einen Fünftel des Immobilienpreisanstiegs verantwortlich.
Natürlich sollten die Vorzüge der 2002 eingeführten Personenfreizügigkeit deswegen nicht vergessen gehen. So kommen zahlreiche Untersuchungen zum Schluss, dass qualifizierte Zuwanderung den Arbeitsmarkt in der Schweiz belebt. Auch die Einkommen der Inländerinnen und Inländer haben sich durch sie erhöht. Zudem sind wir auf die Zuwanderung angewiesen: Diese ermögliche Wirtschaftswachstum und Innovation, gibt Rudolf Minsch zu bedenken. Die Schweiz könne ihren Arbeitskräftebedarf gar nicht aus eigener Kraft decken, meint der Chefökonom beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. «Das eine sind die Hochqualifizierten, wo wir in der Schweiz einfach zu wenige Talente haben. Zum anderen gibt es viele Jobs, die Schweizerinnen und Schweizer gar nicht mehr erledigen wollen», so Minsch.
Mittlerweile haben sich weitere Experten und Expertinnen in die Debatte eingeschaltet. Sie geben zu bedenken, dass grundlegende Informationen zu den tatsächlichen Kosten und zum Nutzen der Arbeitsmigration fehlen. «Die Situation wird nicht umfassend angeschaut», sagt Wirtschaftsprofessorin Irmi Seidl. Tatsächlich lässt sich aktuell nicht klar sagen, ob die Bilanz letztlich positiv oder negativ ausfällt. Sicher ist aber schon jetzt: Die Meldung, dass die starke Zuwanderung mitverantwortlich dafür ist, dass unser Wohlstand schrumpft, wird die Migrationsdebatte in der Schweiz aufs Neue befeuern.
Was bedeutet für Sie Wohlstand?
Wie lässt sich Wohlstand messen?
Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Migration und Wohlstand?
Welches sind die Herausforderungen und Chancen der Zuwanderung?