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Kulturelle Aneignung

Seit einem abgebrochenen Konzert einer Mundart-Reggae-Band in der Brasserie Lorraine in Bern wird nicht nur in der Schweiz, sondern länderübergreifend über kulturelle Aneignung diskutiert und reflektiert. Die Diskussion verläuft hitzig, teilweise rassistisch und meist wenig konstruktiv. Das Berner Lokal sah sich sogar gezwungen, aufgrund der vielen teils rassistischen Reaktionen, seine Social-Media-Kanäle zu deaktivieren. Was ist überhaupt kulturelle Aneignung und warum bringt dieses Thema derart viel Aufmerksamkeit mit sich?

Mit kultureller Aneignung wird die Übernahme von kulturellen Ausdrucksformen oder Gegenständen, Geschichte und Wissensformen oder äusserlichen Merkmalen von Träger*innen einer anderen Kultur bezeichnet. Der Begriff «cultural appropriation» stammt ursprünglich aus den USA und kritisiert den Umstand, dass sich weisse Künstler*innen von schwarzen Menschen geprägte kulturelle Elemente wie Musik oder Kunst einverleiben und dann gar als Erfinder*innen z. B. einer Musikrichtung angesehen werden und damit die schwarzen Künstler*innen quasi unsichtbar werden (ein häufig angeführtes Beispiel ist Elvis Presley). Angeprangert wurde damit also eine historische Verzerrung und eine Ablehnung von Minderheiten, deren Kultur von der weissen Mehrheitsgesellschaft kommerzialisiert wurde.
In der Brasserie Lorraine wurde ein Konzert abgebrochen, weil weisse Personen einer Reggae-Band Dreadlocks trugen und ihre Mundartverse mit Reggae-Rhythmen unterlegten. Einige Anwesende hätten sich deshalb unwohl gefühlt, sagen die Veranstalter*innen. Die Brasserie Lorraine entschied sich daraufhin, das Konzert abzubrechen.
Zeitungen in ganz Europa berichteten daraufhin empört über diesen Vorfall. Die deutsche «Bild» bezeichnet den Vorfall gar als «gaga und radikal» und fürchtet einen Rückschritt «zurück ins dunkle Mittelalter». Andere Zeitungen sind der Meinung, dass aufgrund dieser reisserischen Schlagzeilen keine differenzierte und konstruktive Auseinandersetzung mit dem Thema entsteht. In einer demokratischen Gesellschaft ist eine offene Diskussionskultur wichtig für alle Bürger*innen. Indem man undifferenziert und effekthascherisch über komplexe Themen spricht, wird man weder den betroffenen Menschen noch den Kritiker*innen gerecht.
Kulturelle Aneignung ist ein emotionales und anspruchsvolles Thema. Es gilt zwischen kulturellem Austausch und Aneignung zu unterscheiden. Übernehmen Menschen Elemente aus anderen Kulturen oder kombinieren sie mit dem, was sie als ihre «eigene Kultur» verstehen, findet zunächst erstmal ein kultureller Austausch statt. Solange der Austausch auf Augenhöhe stattfindet, ist das unproblematisch. So entwickeln sich Kulturen laufend weiter, eine Kultur kann nicht festgehalten und konserviert werden/gleich bleiben. Die Ursprünge von kulturellen Praktiken sind oft eindeutig, das heisst aber nicht, dass diese Praktiken nur Teil der Ursprungskultur sind (z. B. Alphörner und Anglizismen – beides Teil der schweizerischen Kultur, das eine ursprünglich, das andere nicht).
Ethisch diskutabel wird die Situation gemäss «cultural appropriation» jedoch, wenn jemand aus einer privilegierten Mehrheit kulturelle Elemente einer Minderheit kopiert, sich aneignet oder einsetzt, ohne sich über die kulturelle Bedeutung oder Geschichte gewahr zu sein und ohne Rücksicht auf die kulturellen Gepflogenheiten der übernommenen Kultur zu nehmen oder sie wertzuschätzen. Wer sich beispielsweise ein Maori-Tattoo stechen lassen möchte, sollte sich daher sowohl der Geschichte als auch der kulturellen Bedeutung der Symbolik bewusst sein.
Kurz zusammengefasst: Kritiker*innen sehen in «cultural appropriation» eine Abgrenzung, die Kulturaustausch verunmöglicht oder gar verbietet. Befürworter*innen argumentieren hingegen, dass die kulturelle Aneignung eine Reflexion, eine Auseinandersetzung mit Kultur fördert, indem eben nicht gedankenlos Kulturgut übernommen werden soll.

Was ist «woke»?
Das Bewusstsein gegenüber sensiblen Themen wie demjenigen der kulturellen Aneignung wird auch als «woke» bezeichnet und bedeutet auf Deutsch «wachsam», «aufgewacht». Der Begriff entstand in den 1930er-Jahren in der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung und steht für ein «erwachtes» Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit, Diskriminierung und Rassismus.

Auftrag

  • Überlegen Sie sich, ob Sie im Alltag Beispiele kultureller Aneignung antreffen. Tauschen Sie diese Beispiele mit 3-4 Mitlernenden aus und finden Sie Gemeinsamkeiten.

  • a) Führen Sie in der Klasse eine Debatte zum Thema durch. Folgende Fragen können im Zentrum stehen. Die Lehrperson kann auch eigene Fragen vorgeben.

    • Ist «cultural appropriation» nur in den USA anwendbar oder gibt es in Europa auch Fälle, in denen kulturelle Aneignung vorkommt?
    • Verhindert «cultural appropriation» einen Kulturaustausch oder nicht?
    • Dürfen Kinder nicht mehr Indianer spielen? Waren Karl May oder Elvis Presley Rassisten? Müssen Weisse mit Dreadlocks zum Coiffeur?
    • Wie nehmen Sie die Diskussion in den Medien wahr?

    Als Grundlage kann das Interview mit Jens Balzer dienen: https://www.derbund.ch/aneignung-ist-zunaechst-einmal-etwas-tolles-377917914754.

    In der Debatte nehmen Sie eine vorgegebene Rolle ein. Folgende Rollen werden von der Lehrperson vergeben:

    • Moderator*in (kann auch die Lehrperson selbst sein): Diese Person lenkt das Gespräch und nimmt eine neutrale Haltung ein. Sie stellt den Debattierer*innen Fragen und schreitet ein, falls die Debatte vom Thema abkommt.
    • Debattierer*in: Nehmen an der Debatte teil und vertreten klar den zugeteilten Standpunkt mit möglichst vielen Argumenten. Für beide Seiten – Pro und Kontra – sind gleich viele Personen zu bestimmen. Die Debattierer*innen bereiten ihre Argumente mithilfe des argumentierenden Vierschritts vor.
      Instrument anzeigen
    • Twitter*innen: Erstellen insgesamt zwei Tweets zur Debatte. Diese werden gut leserlich auf einem Blatt Papier oder auf dem Whiteboard notiert.
    • Wutbürger*innen: Treten in der zweiten Hälfte der Debatte auf und ärgern sich über die Diskussion. Diese Personen sind mit nichts und niemandem einverstanden.
    • Beobachter*innen: Beobachten die Debatte und geben am Schluss eine Rückmeldung zu folgenden Punkten: Einhaltung der Redezeit, Korrektheit der Argumentation, Umgang untereinander.

    b) Nach der Debatte findet die Reflexion statt. Dabei verfolgt jede Rolle wiederum eine Aufgabe:

    • Debattierer*innen: Überlegen sich, warum die eigene Argumentation gut gelungen ist oder eben nicht.
    • Twitter*innen: Erstellen insgesamt zwei Tweets zur Debatte. Diese werden gut leserlich auf einem Blatt Papier oder auf dem Whiteboard notiert.
    • Wutbürger*innen: Treten in der zweiten Hälfte der Debatte auf und ärgern sich über die Diskussion. Diese Personen sind mit nichts und niemandem einverstanden.
    • Beobachter*innen: Geben den Debattierer*innen eine Rückmeldung:
      - Wurden die Redezeiten von den Debattierer*innen eingehalten?
      - Haben diese Argumente benutzt oder nur Behauptungen erstellt?
      - Wie war der Umgang? Respektvoll? Respektlos?

    Idee/Grundlage: Easyvote Polittalk light