Mathematik: ungenügend. So liessen sich die jüngsten Ereignisse rund um die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) auf den Punkt bringen. Gleich um vier Milliarden Franken hat sich der Bund bei seinen Berechnungen für die Ausgaben der AHV vertan. Nun steht diese plötzlich finanziell besser da als ursprünglich angenommen. Und so wird bereits die Forderung aus der Politik laut, die Abstimmung vom September 2022 über die Erhöhung des Frauenrentenalters zu wiederholen.
Kleinere Rechnungsfehler passieren und sind nichts Besonderes. Anders ist es, wenn es dabei um eine Differenz von vier Milliarden geht. Um so viele Franken hat sich, wie im August bekannt geworden ist, das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) bei der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) verrechnet. Die gute Nachricht: Die effektiven Ausgaben der AHV dürften im Jahr 2033 um eben diese vier Milliarden tiefer ausfallen als erwartet. Das entspricht einer Abweichung von rund sechs Prozent. Der AHV geht es also besser als bisher vorausgesagt.
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hat eine Untersuchung der Vorfälle angekündigt. Dabei ist die Frage, wie ein solcher Fehler passieren konnte, eigentlich rasch beantwortet. Konnten doch für die falsch berechneten Finanzperspektiven zwei fehlerhafte Formeln im Berechnungsprogramm verantwortlich gemacht werden. Diese Formeln bewirken, dass die jährlichen AHV-Ausgaben ab 2027 zu hoch prognostiziert sind. Der Fehlbetrag nimmt von Jahr zu Jahr zu und beträgt im Jahr 2033 bereits vier Milliarden Franken.
Spannender ist da schon die Frage, was diese Nachricht für die Zukunft der AHV bedeutet. Diese sieht damit weniger düster aus als bisher befürchtet. Nichtsdestotrotz bereitet die langfristige Finanzierung der AHV nach wie vor Probleme. Zuspitzen dürften sich diese Probleme ab 2026 mit der Einführung der 13. AHV-Rente, bei der es sich um einen Rentenzuschlag von 8,3 Prozent für alle Altersrentnerinnen und -rentner handelt. Daran ändert laut dem BSV auch die jetzige Korrektur der Finanzperspektiven wenig. Trotz besserer Prognosen resultiert unter dem Strich ein Verlust.
Der Rechnungsfehler hat aber noch weitergehende Folgen. Denn nicht nur die Zahlen haben sich geändert, auch das Vertrauen in die Prognosen des Bundes ist nicht mehr gleich gross wie davor. Diese Schlussfolgerung legen zumindest die Reaktionen aus der Politik nahe. So ist von links bis rechts zu vernehmen, dass solche Fehler das Vertrauen der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger schwächen. Zumal der Rechnungsfehler kein Einzelfall ist: Bereits nach den Nationalratswahlen 2023 hatte das Bundesamt für Statistik die Wähleranteile der Parteien nachträglich korrigieren müssen. Auch im Vorfeld der Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform II von 2008 lagen die Berechnungen der Steuerausfälle um Milliarden daneben.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Gültigkeit von Volksentscheiden, bei denen sich die Stimmberechtigten aufgrund falscher Prognosen eine Meinung bildeten. Zumal die negativen Prognosen in der AHV-Debatte stets eine wichtige Rolle eingenommen haben. Die linken Parteien haben hierzu eine klare Meinung: «Die Pläne der Bürgerlichen, bei den Rentenleistungen zu kürzen und sogar das Rentenalter zu erhöhen, gehören damit definitiv vom Tisch», liess sich die Co-Fraktionspräsidentin der SP, Samira Marti, in einer Medienmitteilung zitieren. Im Gegenteil: Die Renten müssten nun erhöht werden.
Die Grünen und die SP Frauen gehen sogar noch einen Schritt weiter und fordern, dass die Abstimmung vom 25. September 2022 über die Erhöhung des Frauenrentenalters wiederholt wird. Zur Erinnerung: Mit 50,6 Prozent der Stimmenden hatte sich damals eine äusserst knappe Mehrheit für eine AHV-Reform ausgesprochen, die eine schrittweise Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahre vorsieht. «Die Frauen in der Schweiz wurden um ein Jahr Rente betrogen», schrieb die Grüne Partei in einer Mitteilung.
Zustimmung gibt es hierfür auch vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB). Dieser sieht das knappe Ja zum Frauenrentenalter 65 nun «infrage gestellt». Der SGB plädiert dafür, das vorhandene Geld den Versicherten gutzuschreiben. Die 13. AHV-Rente soll demnach schon 2025 und nicht erst 2026 ausbezahlt werden. Auch Travailsuisse, der Dachverband der Arbeitnehmenden, fordert, dass die Finanzierung der 13. AHV-Rente und der Renten an die neuesten Prognosen angepasst wird.
Anders sehen es die bürgerlichen Parteien. Der SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi nannte es in einer ersten Reaktion «problematisch», wenn vor einer Abstimmung falsche Zahlen kommuniziert würden. Er lehnt jedoch eine Wiederholung der Abstimmung über das Frauenrentenalter explizit ab. Seine Partei hatte sich vor der Abstimmung für die Erhöhung des Frauenrentenalters ausgesprochen.
Sollte die Abstimmung tatsächlich wiederholt werden, wäre es erst das zweite Mal in der Geschichte der Schweiz seit 1848, dass ein Volksentscheid aufgehoben wird: 2019 hatte das Bundesgericht die Abstimmung über die CVP-Initiative zur steuerlichen Heiratsstrafe für ungültig erklärt. Begründet wurde dieser Schritt damit, dass der Bundesrat die Stimmbevölkerung im Abstimmungskampf 2016 falsch informiert hatte. So war damals in der Botschaft und in den Abstimmungsunterlagen zu lesen, dass nur 80’000 Ehepaare von dieser steuerlichen Benachteiligung betroffen sind. In Wahrheit waren es aber 454’000 Paare.
Quellen:
https://www.tagesanzeiger.ch/ahv-bund-hat-sich-um-milliarden-verrechnet-814024694138
https://www.srf.ch/news/schweiz/berechnungsfehler-des-bundes-die-ahv-fehlprognose-gefaehrdet-das-vertrauen-in-die-politik
https://www.srf.ch/news/schweiz/berechnungsfehler-des-bundes-ahv-rechenpanne-das-sind-die-reaktionen
https://www.watson.ch/schweiz/ahv/618451221-bund-macht-fehler-bei-ahv-berechnungen
https://www.watson.ch/schweiz/bundesrat/563366437-das-bundesgericht-hat-erst-einmal-eidgenoessische-abstimmung-aufgehoben
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